Die bewusste Entscheidung zwischen einem „künstlichen Touristen-Venedig“ und dem „künstlerischen Venedig“Eine Entscheidung zwischen Sinn & Verstand, Seele & Körper.
Touristische Stereotypen und das
eigene Wissen begleiten einen im Unterbewusstsein mit nach Venedig: ob
absichtlich durch Studien angeeignet oder durch ständige Repetition in den Medien unfreiwillig
in den Kopf gestopft hat jeder, selbst wer noch nie in Venedig war, irgendetwas
zu Venedig zu sagen (ein ähnliches Phänomen wie bei New York: einer Stadt, die jeder
glaubt zu kennen, auch wenn er noch nie dort war). Man glaubt Venedig zu kennen - beispielsweise durch Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ – Shakespeares „Der Kaufmann von
Venedig“ – durch einige Filme, denen Venedig als unnachahmliche Kulisse dient.
Zusätzlich zur belletristischen
und kulturellen “Besetzung“, reist man mit seinem historischen Wissen dorthin,
denn jeder weiss, dass Venedig im Mittelalter die blühendste Handelsstadt
der Welt war: Die Stadt der Kaufleute.
Diese Wissensfragmente, die Erinnerungen
aus Filmen und persönliche Reminiszenzen von vorigen Besuchen, falls man schon
dort war, trägt man zusammen mit seinem Gepäck in die Stadt.
Sich völlig frei davon zu
machen, damit neue Erlebnisse unbeeinflusst in den Körper strömen können, ist
nicht ganz leicht:
Es braucht dafür die komplette Hingabe
an den gegenwärtigen Moment und die Vermeidung von touristischen Plätzen wie
dem Markusplatz und den Canale Grande rund um die Rialto-Brücke.
Diese Plätze - deren Postkartenmotive im Kopf eingebrannt sind - würden letztendlich
lediglich bestätigen, was man ohnehin schon weiss. Oft ist der Grund für einen Besuch an einem touristischen Platz der, einfach
da gewesen zu sein und sagen zu können: „Ja, ich war dort. Ich kenne diesen
berühmten Platz nun persönlich. Daher kann ich mitreden.“ Leider erfüllt dieser
Besuch meist leider nur einen Zweck: Den der eigenen Anerkennung oder die Anerkennung von anderen. Es hat meist sehr wenig mit dem Sich-Einlassen zu tun, denn „man MUSS dort gewesen sein,
bevor man sich den anderen Plätzen der Stadt widmet.“ Der Reiseführer diktiert die wichtigsten
Plätze. Der Glaubenssatz entsteht, eine touristische Pflicht erfüllen und eben diese Plätze "abarbeiten" zu müssen.
Obwohl etwa 250.000 Menschen in
Venedig leben, und es weitaus mehr Touristen gibt, als Einheimische – nämlich jährlich 30 Millionen (Rom hat "nur" 10 Mio im Jahr) – überwiegt dennoch der einheimische Charme der Stadt,
die nach wie vor sehr inspirierend wirkt. Obwohl Venedigs Haupteinnahmen seit
100 Jahren aus dem Tourismus kommen, hat Venedig seinen ganz eigenen Zauber
behalten. Man hat geradezu das Gefühl dass Venedigs Aura stärker als jedes
touristische Treiben ist, das nach Konsum und Menschenmassen schreit.
Vielleicht liegt es an den Wasserstrassen,
an den fehlenden Autos und Radfahrern, vielleicht liegt es daran, dass kaum
eine Gasse länger als 150 Meter ist und sich die Touristen in diesem Labyrinth
gut verteilen, aber vielleicht auch daran, dass die Venezianer eine starke
Persönlichkeit haben, so dass Millionen von Touristen diese Atmosphäre nicht
verdecken können. Fährt man im öffentlichen Fortbewegungsmittel, dem Vaporetto, dem Linienbus auf dem Wasser, hat man viele Einheimische um sich. Da
gibt es vor allem die alten venezianischen Damen, die im Weg stehende Touristen
einfach beiseite schieben, als wären die Fremden ungezogene lästige Kinder, die man mit einem leichten Schubser zurechtweisen müsse.
Cannaregio ist ein altes
jüdisches Viertel in Venedig, in dem sich so gut wie keine Touristen aufhalten,
dort durften wir Privaträume bewohnen. Machte man die Haustür auf, schwappte
einem das Wasser entgegen. Die Wohnung befand sich also direkt an der
„Strasse“, an der Nachts ab und zu noch ein zwei Boote vorbeifahren und man ein
anschliessend beruhigendes Klatschen der Wellen an die Hauswand hört.
Der Grund meines Besuchs war die
55. Biennale, die sich vor allem in zwei Arealen abspielt: In den alt-ehrwürdigen
Gärten mit den internationalen Pavillions verschiedener Länder, den Giardinis,
und in den Backstein-Fabrikhallen des Werftgeländes Arsenal.
Da diese Areale genau am anderen
Ende von unserem Apartment in der Ormesini lagen, bedurfte es das
Überqueren von 30 Brücken - von insgesamt 426 Brücken der Stadt - sowie eine gute
Marschmoral und ein smartphone mit Navifunktion. Die 3,7 Kilometer ans andere Ende
der Stadt zu Fuss zurückzulegen. Dieser Umstand gibt einem die Möglichkeit, der Stadt näher zu
kommen.
Die Strecke vom Stuttgarter Osten
zum Schlossplatz ist ungefähr dieselbe, die ich häufig mit dem Fahrrad oder zu
Fuss zurücklege, dennoch fühlt sich dieselbe Kilometeranzahl in Venedig anders an:
Alle paar Schritte wird abgebogen, man hat entweder Häuserfronten vor sich oder
Wasser. Alle Gassen ähneln sich und man kommt nicht umhin, sich wie eine kleine
Maus im Labyrinth zu fühlen.
Der Besuch der Biennale war ein
lang gehegter Wunsch, der mir bis 2013 verwehrt blieb. Die Erwartungen waren
gross.
Manche Kunstausstellungen lassen
einen Kunstwissenschaftler und Kunsthistoriker erschaudern und sich fragen „Ist
das Kunst oder kann das weg?“. Die Exponate in den Hauptpavillons der
Giardinis auf der 55. Biennale waren weitestgehend enttäuschend. Bis auf zwei
grandiose Konzepte und Umsetzungen fragte man sich, welche Maschinerie des
Kunstmarktes in Gang gesetzt worden war und welches Ziel oder welche Politik bei der Entscheidung
für das ein oder andere Objekt vorrangig war, um diese oberflächliche Art von Kunst für die
Repräsentation eines Landes zum Vorschein zu bringen. Natürlich: Viele
Kunstwerke benötigen Sekundär-Wissen um das Kunstwerk, weil es sich nicht von
alleine eröffnet. Ein Werk zu verstehen und sich dafür begeistern zu können -
wie zum Beispiel Duchamps Pissoir, das einen wichtigen Bestandteil der Kunstrezeptionsentwicklung
darstellt und das viele Besucher zunächst einmal entsetzte – benötigt zusätzliches Wissen,
welches hinter dem Werk liegt. Sobald ein Kunstwerk Emotionen verursacht, sei es
Neugier, Faszination, Freude oder auch negative Emotionen, ist es meiner Meinung nach gelungen,
denn es schiebt Prozesse an, mit denen man sich auseinandersetzen kann. Leider
liessen mich viele Kunstwerke in den Giardinis indifferent und ich hatte noch nicht
einmal den Wunsch, mich damit noch näher auseinanderzusetzen.
Man wünschte sich auf eine New
Yorker Ausstellung wie Christian Marclays „The Clock“ oder ins Karlsruher ZKM, denn ich hoffte dass die Biennale ähnliche Gefühle und Inspirationen in mir hervorbringen würde - was sie letztendlich auch tat, aber nun der Reihe nach:
Die Gesamtorganisation liess zu wünschen übrig: Lange Schlangen in den ansässigen Cafes, weil
nur ein einziger Angestellter abkassierte, schlechte Leitsysteme, eine unübersichtliche
Webseite und der völlige Ausschluss von Smartphones, die man für ein besseres
Leitsystem oder für Erklärung von Kunstwerken gut hätte einsetzen können. Die
Organisation glich einer provinziellen Kunstausstellung, und war einer wichtigen
internationalen Kunstausstellung nicht würdig.
Dennoch war der Besuch in den Giardinis nicht vertane Zeit. Aufgrund zweier Länder: Russland und Finnland:
Der russische Künstler und
Konzeptualist Vadim Zakharov präsentierte ein Kunstwerk, dass sich über zwei
Ebenen und über mehrere Räume erstreckte. Damit schaffte der Künstler ein
Novum, denn der Pavillon wurde seit seines Bestehens 1914 noch nie für ein
einziges Projekt genutzt.
Er griff eine griechische
Mythologie auf: Danae und Zeus und er brachte sie mit männlichen Werten und
Vorstellungen zusammen. Auf der unteren Ebene befindet sich ein Raum, in dem
nur Frauen Zutritt haben. In der Decke ein Loch, aus dem ständig goldene Münzen
regnen, eine eigene Prägung für dieses Kunstwerk.
Es regt zum Nachdenken an, die
Themen sind Männlichkeit versus Weiblichkeit, Gier und Macht als männliche
Eigenschaften und die Verbindung der Themen untereinander, die auch die
Verbindungen der einzelnen Räume und Ebenen als Kreislauf darstellen. Der
Zuschauer ist wortlos aufgefordert den Kreislauf in Schwung zu halten oder eben den Kreislauf von Gier und Geld zu stoppen – schliesslich
macht es ja auch Spass, den Kreislauf zu erkennen und in irgendeiner Form mitzumachen. Nimmt man
eine Münze zur Erinnerung mit – unaufgefordert – kommt die Frage auf, ob man sich damit in eben dieses Gefüge aus Besitzdenken und männlicher Gier
eingelassen hat oder dazu beigetragen hat, dass dieser Kreislauf ein Ende hat. Dieses Kunstwerk kann auf viel mehr Ebenen und in mehr
theoretischen Räumen diskutiert, interpretiert und erfasst werden als in den
vier Räumen, in denen das Kunstwerk stattfindet.
Das andere Kunstwerk im
skandinavischen Pavillon trägt den Namen „A Fallen Tree Grows into a Garden of Knowledge“ ("Ein gefallener Baum wächst in einen Garten des Wissens"). So wie Vadim lässt auch dieses Kunstwerk viel Raum für
Interpretation und Inspiration für eigene Wahrnehmungen, deren Wertigkeit und
Existenzberechtigung dadurch nicht infrage gestellt werden, sondern
gleichberechtigt mit der Absicht des Künstlers stehen.
Im Haus, das von aussen bereits
sehr futuristisch wirkt durch eigens angebrachte schwarze Plexiglas(?)-Platten.
Das Werk „closed circuits“ ("Geschlossene Kreisläufe") von
Terike Haapoja stellt die direkte Kommunikation zwischen zwei Spezies her und
lässt diese dabei auf sehr exklusive , und dennoch natürliche Art miteinander
kommunizieren. Ein kleines Podest mit einer Plexiglasbox gibt dem Zuschauer die
Möglichkeit, in die Welt des sichtbar gemachten Wunders einzutreten und mit
einem einzigen Baumblatt zu kommunizieren. Der Austausch vom ausgeatmeten
Kohlendioxid des menschlichen Museumsbesuchers mit dem Sauerstoff des Blattes
soll über Frequenzen in einen hörbaren Ton übertragen werden. Währenddessen wird die
heilig anmutende direkte Kommunikation mit einer sich öffnenden Plexiglass-Lichtblüte
dargestellt, die um das Blatt herum angebracht ist. Dieser Vorgang lässt einen
auf einer emotionalen Ebene bewusst werden, wie direkt die Verbindung und damit
auch die Abhängigkeit der beiden Spezies zueinander ist. Dadurch dass es der
Vorgang mit auditiven, visuellen und interaktiven Mitteln verstärk wird und mit
eben diesen Sinnen im menschlichen Körper wahrgenommen wird, wird das Kunstwerk
zu einem sehr intensiven, spürbaren Erlebnis, das die Verbindung zwischen
Mensch und Natur in den Vordergrund stellt und in einem grösseren und
emotionaleren Zusammenhang empfunden wird, als auf einer rein
wissenschaftlichen Photosynthese.
Kunst ist in der Lage, einem
andere Perspektiven zu eröffnen oder innere Vorgänge sichtbar zu machen, aber
auch inspiriert zu werden für neue Denkrichtungen. Wenn man sich bewusst macht,
welche Haltung man zu eigenen Erinnerungen hat, dann macht das Werk „Tempus
Fugit“ (Lat. frei übersetzt:"Die Zeit rast") auf dem ausgelagerten Werftgelände Arsenale dies sichtbar. Erinnerungen
sind für manche ein Punkt in der Vergangenheit, der den Beginn einer langen
Entwicklung markiert um erklären zu können, wo man jetzt gerade steht. Für
andere sind es nostalgische Kurzfilme im Kopf, die manchmal hervorgeholt werden,
um verstummte Gefühle wieder zu aktivieren, für andere sind es Zeitdokumente.
Und für wieder welche sind diese Erinnerungen gleichgültig.
In Samantha Bosques Ausstellung
"Forgotten Memories" ("Vergessene Erinnerungen") steht man vor überlebensgrossen Negativabzügen von alten Portraitfotos. Die Künstlerin selbst hatte diese Fotos auf der Strasse gefunden. Die Identität der dargestellten Personen, sowie der Anlass für das Foto bleiben ungeklärt.
"Forgotten Memories" ("Vergessene Erinnerungen") steht man vor überlebensgrossen Negativabzügen von alten Portraitfotos. Die Künstlerin selbst hatte diese Fotos auf der Strasse gefunden. Die Identität der dargestellten Personen, sowie der Anlass für das Foto bleiben ungeklärt.
Vor den Negativ-Portraits sind
menschliche schwarze Skulpturen in Anzug und Binde um den Kopf, die ihnen die
Sicht auf die Portraits versperren. Auch dem Zuschauer bleibt die Sicht auf die
Portraits verwehrt, obgleich nicht mit einer Augenbinde, sondern dadurch, dass man
einen Negativabzug vor sich hat. Erst über das Smartphone kann dieser
Negativ-Effekt umgedreht werden und die entsorgten Erinnerungen eines Fremden
werden sichtbar.
Dieses Kunstwerk hat die ständige
Anwesenheit des smartphones des Besuchers miteinkalkuliert und fördert die
interaktive Erkenntnis um eine verloren gegangene Erinnerung.
Pawel Althamer hat meinen persönlichen Standpunkt mit seinem Kunstwerk "Venetians" bestätigt. Er bildete Gesichter und Hände echter "Ureinwohner" Venedigs ab. Die lebensgrossen Skulpturen stehen und sitzen im Raum verteilt. Ihre Körper selbst sind quasi nicht existent und werden durch Stahlseile und –bänder ersetzt.
Was bleibt, sind individuelle Gesichter mit individueller Haltung. Althamers Errungenschaft, die er seinem Werk zuschreibt ist die Erkenntnis, dass die Seele unser Hauptaugenmerk verdient, denn „the body is only a vehicle fort he soul“ ("Der Körper ist nur ein Fortbewegungsmittel für die Seele").
Die Mischung von eigenen Gedanken, inspiriert durch das Gezeigte, Erlebte, und der Atmosphäre der Stadt kann zu einem Erlebnis werden, das einen nachhaltig beeinflusst. Muss aber nicht. Erst wenn man es schafft, sich den Stereotypen zu entziehen und sich auf eine ganz persönliche, subjektive Erlebnisreise macht, die alles Verallgemeinernde ausschliesst, kann sich dieses Erleben zu etwas Nachhaltigem entwickeln.
Die Biennale 2013 und Venedig
selbst kann auf unterschiedlichste Weise erlebt werden. Wer dorthin geht, um
hip zu sein, weil ein „mondäner Mensch eben zur Biennale geht“ und damit sich
selbst einer Art Verpflichtung unterwirft, die mehr einem Ruf des Verstandes
als dem des Herzens folgt, der wird sich von der Masse an Kunstwerken womöglich
gestresst und unter Druck fühlen. Die Lösung hierfür: entweder er beweist Mut zur Lücke oder
verweilt mehrere Wochen in Venedig. Denn um alle Kunstwerke in sich aufzunehmen
und sich damit auseinanderzusetzen, um Sie gänzlich verstehen zu können, sind wenige Tage zu kurz.
Eine andere Art und Weise, die
Biennale zu erleben ist sich treiben zu lassen. Von Anfang an wissend, dass man
nicht alles sehen, erfassen und geniessen kann und darauf vertrauend, dass sich
das, was sich einem von selbst eröffnet, genug ist, ohne an einen anderen Ort
hetzen zu müssen.
Diese zwei kapital unterschiedlichen
Herangehensweisen, spiegeln sich auch in der Stadt selbst wider.
Geht man durch die Strassen
passiert es immer wieder, vor allem nachts, dass sich an einem Platz sich viele
sich unterhaltende Menschen finden und weil Töne brechen können, man zwei Ecken
weiter, die absolute Stille herrscht. Der Wechsel zwischen Belebtheit und
Stille kann nicht nur im Aussen, sondern auch im Inneren erlebt werden.
Ich auf jeden Fall habe so, wie die
italienische Lagune auf Autos und Fahrräder verzichtet, auf touristische Plätze
verzichtet, sowie auf Kunstwerke, die mein Herz weder belebten noch in die
friedliche Stille führten.
Ich war in der Lage, ohne das
Gepäck von Wissen, Erinnerungen und Stereotypen die Stadt zu betreten und
hatte deswegen genug Raum um Inspiration, Magie und Erkenntnisse aus der Stadt
heraus wieder nach Hause nach Stuttgart zu bringen.