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Urlaubsaktivitäten im Jahr 2105.


Science Fiction und Time Travel Short Story, geschrieben 1997. 

 Heute war der 7.Juni, im Jahr 2105. Der Wecker klingelte.  Sie hatte ihn vor Jahren auf einem Flohmarkt ergattert.  Der Verkäufer sagte ihr damals, daß der Wecker mindestens 120 Jahre alt sei, aber noch einwandfrei funktionierte. Das tat er ja auch, der einzige Nachteil war nur, daß man ihn manuell auf Sommer- und Winterzeit einstellen mußte. Er klingelte. Das fand sie äußerst angenehm, denn die Weckuhren, die sie bisher hatte, hatten zwar ein Repertoire an allen möglichen Geräuschen; vom seichten Vogelgezwitscher über Polizeisirenen bis hin zu Sätzen, die man selbst eingeben konnte, wie: „Du bist die Tollste und Du mußt jetzt aufstehen“. Aber so ein nostalgisches Klingeln brachten die Dinger nicht zustande. 

KAPITEL 1: SCHLAF-DEKOMPRIMIERUNGS-PILLEN


Heute fing ihr erster Urlaubstag in diesem Jahr an. Und es war immerhin schon Juni. Wie schön muß das früher gewesen sein, als die Leute morgens um 8 oder 9 zur Arbeit gingen und um 5 oder 6 schon Feierabend hatten. Sie schwelgte gerne von Zeiten, in denen sie nicht geboren war. Seit Ghuanan 2050 auf der Weltkonferenz in Langenrain den 18-Stunden-Arbeitstag für jeden einrichtete, gab es im Prinzip keine Freizeit mehr, außer man reduzierte sein Schlafpensum auf 2 Stunden und schluckte dafür ein paar Schlafdekomprimierungspillen. Die Pillen täuschten dem Gehirn vor, man habe viermal soviel geschlafen, das heißt bei zwei Stunden dann acht Stunden. Der Haken daran war, daß man nach drei Wochen einen schrecklichen Ausschlag bekam und an Gedächtnisschwund litt. Deshalb versuchten manche Arbeitgeber mit morgendlichen Urinproben zu überprüfen, ob jemand über längere Zeit hinweg die Pillen schluckte, denn der Gedächtnisschwund wirkte sich verheerend auf die Arbeit aus. Mal vergaß jemand einen Termin, mal konnte er ein Firmenprojekt nicht vorstellen, weil er es vergessen hatte. Wem durch einen Urintest nachgewiesen wurde, daß er im Übermaß diese Pillen konsumierte, erhielt zuerst eine Verwarnung und danach erwartete ihn eine Kündigung oder eine Herabsetzung seines Gehalts. Sie hatte des öfteren schon Schlafdekompressionspillen zu sich genommen, hatte jedoch immer darauf geachtet, daß man ihr beim Urintest nicht auf die Schliche kommen konnte. Und sie übertrieb es auch nicht und nahm sie nur dann wenn es wirklich nötig war. Und das war äusserst selten. 

DER MIND-OPERATOR
Nun hatte sie endlich Urlaub. Sie lag noch eine ganze Weile im Bett und starrte an die Decke. Sie zappte sich noch eine ganze Stunde durch die Programme, bevor sie aufstand. Die Projektionsleinwand befand sich direkt über ihrem Bett an der Decke. Sie hatte irgendwo mal gelesen, daß früher trotz der damals hohen Anzahl von 27 Programmen nur Mist im Fernsehen lief. Jetzt waren es in etwa 1380 Programme und es hatte sich in dieser Beziehung immer noch nichts geändert. Sie schaltete auf „Entspannungsatmosphäre“. Auf der Leinwand tauchte ein Bild von einem Wasserfall auf, der inmitten von Palmen und Blattgewächsen vor sich hin rauschte. Im Hintergrund hörte man Vogelgesänge und Affengeschrei. Gleichzeitig duftete es nach frischem Gras und exotischen Blüten. Ab und an ein Wasserstaub, der sich auf ihre Haut legte, als würde sie direkt neben einem Wasserfall stehen. Eine im Zimmer installierte Anlage mimte Morgenlicht und regulierte die dem Bild entsprechende Lufttemperatur. Eigentlich war sie überhaupt nicht in „Urwald-Wasserfallstimmung“. Sie schaltete auf das „Der-Berg-ruft-Programm“. Es wurde gleich viel kälter im Zimmer und es duftete nach frischer Bergluft und Heu. Das Bild zeigte den Blick von einem Alpengipfel ins Tal. Rechts eine kleine Almhütte, links eine Kuh, deren Laute man hören konnte. Sie genoß das Programm eine Weile und ihre Nase war schon ein bißchen von der Kälte gerötet. Endlich entschied sie sich dazu, aufzustehen. Sie schlug die Bettdecke beiseite und schlüpfte aus ihrem Bett. 
Sie gähnte und streckte sich. Was für ein Tag! Wenn sie wollte, könnte sie den ganzen Tag in ihrer Wohnung verbringen, ohne zu duschen und nur vor sich hin zu träumen. Sie hatte Lust auf ein ausgedehntes Frühstück. Sie lief gutgelaunt in die Küche und spürte unter ihren nackten Füßen das mit Tau bedeckte kalte Gras. Auch das gehörte zum „Der-Berg-ruft-Programm“. Manche Programme dieser Art boten nicht einmal den dazugehörigen Duft. Sie empfand das als Frechheit. Schließlich bezahlte man horrende monatliche Fernsehgebühren. Da konnte man doch wenigstens einen Duft erwarten ! So langsam fröstelte sie jedoch ein wenig. Sie konnte sich allerdings nicht entscheiden, welche Atmosphäre sie statt dessen gerne hätte. Kurz entschlossen setzte sie den „Mind-Operator“ auf den Kopf. Die Plexiglashaube setzte sie sich meistens nur morgens auf, da der Operator ihre Haare immer in Unordnung brachte. Sie las auf dem mit der Haube gekoppelten Display folgendes: “Erwünschte Temperatur: 20°C, Luftfeuchtigkeit: 20%, Musik: Gemäßigt, melodiös, Saxophonorientiert, Frühstück: Croissant, Milchkaffee, Orangensaft, eine Kiwi.“ Sie setzte die Haube wieder ab und schaltete das Display auf Automatik. Sofort erklangen Saxophontöne und es wurde ein bißchen wärmer. Der „Mind-Operator“ gehörte inzwischen zu jeder vernünftigen Wohnungseinrichtung -. Schließlich konnte niemand verlangen, daß man morgens schon zu geistiger Höchstform auflief, nur um zu entscheiden, was man zum Frühstück haben wollte oder bei welcher Temperatur man sich gerade wohl fühlte. Dieses Entscheidungsdilemma nahm der „Mind-Operator“ ab. Er analysierte die Gehirnströme und errechnete in fünf Sekunden die für Körper und Geist angemessene Temperatur, Musik, Essen und bei einer Erweiterung, die man sich zulegen konnte, sogar noch die Kleidung, in welcher man sich im Laufe des Tages am wohlsten fühlte. 
Was der „Mind-Operator“ nicht übernahm, war die Urlaubsplanung. Sie hatte sich schon Wochen vorher überlegt, wie sie den Urlaub verbringen sollte. Und nun, an ihrem ersten Urlaubstag, hatte sie immer noch nicht die geringste Ahnung, was sie mit ihren freien Tagen anstellen sollte.



KAPITEL II: DIE ZEITREISEN-AGENTUR

Sie verbrachte den gesamten Morgen damit, zu überlegen, wie sie ihre freie Zeit nutzen könnte. Es war bereits früher Nachmittag, als sie aus der Dusche stieg und sich von dem warmen Luftstrom, der aus einer zwei Meter hohen und ein Meter breiten Düse neben dem Waschbecken blies, trocknen ließ. Sie schlüpfte in ihren weichen, weißen Bademantel, legte sich auf ihre Couch und sinnierte. Ihr wollte einfach nichts einfallen. Sie hatte Lust, etwas zu erleben, koste es was es wolle. Geld spielte momentan keine Rolle, da sie genug Zeit gehabt hatte, für diesen Urlaub einiges auf die Seite zu bringen.
Der Zufall kam ihr bei dieser Entscheidung zu Hilfe. Sie zappte sich wieder durch die Programme und blieb bei einer Dokumentation stehen. Sie hörte, wie eine Frau – etwa in ihrem Alter - in einem Interview begeistert erzählte, daß sie noch nie eine so erlebnisreiche Woche gehabt hatte und daß sie dieses Programm jedem nur empfehlen würde. Die Frau war völlig aus dem Häuschen. Ihre Augen funkelten, als sie von vergangenen Zeiten schwärmte. Sie habe jetzt ein ganz anderes Geschichtsbewußtsein und diese Erfahrung habe ihr auch geholfen, die Dinge besser zu verstehen. Als man sie fragte, welche Dinge, ging sie nicht darauf ein, sondern schilderte enthusiastisch ihre Erlebnisse. 
Irvina hatte von diesem Programm gehört. Es bestand darin, Menschen an einen beliebigen Ort in eine beliebige Zeit in der Vergangenheit zu versetzen. Risiken bestanden laut Veranstalter wohl keine. Man konnte gegen Vorauszahlung ein oder zwei Wochen einen Flug in die Vergangenheit buchen und seinen Urlaub beispielsweise bei den Steinzeitmenschen verbringen. Sie hatte nicht gewußt, daß dieses Programm schon so ausgereift war. Natürlich kannte sie Flüge in die Vergangenheit, aber bisher konnte man nur etwa 30 bis 40 Jahre zurückreisen. Daß man den Anfang der Menschheit miterleben konnte, war ihr neu. 
Sie war ja schon immer an der Vergangenheit interessiert gewesen. Was sprach eigentlich dagegen, ihren Urlaub unter anderem auf diese Art und Weise zu verbringen ? Sie notierte sich die Nummer die am unteren Bildschirmrand eingeblendet war. 
Kurz entschlossen wählte sie die Nummer. Sie zupfte sich ihren Bademantel zurecht und schaltete auf visuelle Kommunikation. Am anderen Ende meldete sich eine sehr hübsche Dame, die ihr stechend rotes Haar nach oben gebunden hatte und eine hellblaue, enge Bluse trug. Sie war sehr stark geschminkt, wirkte jedoch trotz ihres schrillen Auftretens sympatisch. Sie fragte freundlich, womit sie dienen könne. Irvina antwortete, sie sei an dem Reiseprogramm interessiert. „Wann hatten sie vor, die Reise anzutreten?“ Irvina antwortete, sie wolle, wenn es derart kurzfristig möglich sei, die Reise sofort antreten. „Ich sehe da keine Schwierigkeiten. Wir haben noch Kapazitäten. Ich könnte in einer Stunde einen Termin für sie arrangieren. Dann kann ich Sie persönlich beraten und die Formalitäten mit Ihnen absprechen.“ Irvina sagte zu und fragte noch, wie die Agentur zu finden sei. Da diese ganz in der Nähe ihres Apartments lag, hatte sie noch genug Zeit, um sich herzurichten. 









KAPITEL III: "DR. PAULINE KAEL"

Eine Stunde später stand sie vor einem riesigen, gläsernen Komplex. Die Scheiben spiegelten in der Sonne gegenüberliegende Gebäude wieder. Sie konnte die Form des Gebäudes nicht ausmachen. Insgesamt schien es sehr verwinkelt. Über ihr im Eingangsbereich erstreckte sich eine große Kuppel, unter welcher man durchgehen mußte, um zur Eingangsdrehtür zu gelangen. Innen eröffnete sich ihr eine große Eingangshalle, die am Boden mit Stein ausgestattet war. Die Wände und selbst die Decke, welche sich in der Mitte zylindrisch nach oben erstreckte, waren aus Glas. Die Sonne strahlte in die Halle und Irvina hatte aufgrund der Helligkeit den Eindruck, als stünde sie noch immer im Freien. An einigen gläsernen Säulen standen grüne und blaue Palmen. Die Atmosphäre gefiel ihr. Sie mochte helle, hohe Hallen, die mit Pflanzen geschmückt waren. Eine Dame kam auf sie zu. Es war dieselbe, mit welcher sie eine Stunde zuvor telefoniert hatte. Sie begrüßte Irvina mit einem freundlichen Lächeln. Sie forderte Irvina auf, ihr zu folgen. Im Büro angelangt, bat sie Irvina, Platz zu nehmen. Auf ihrem Schreibtisch sah Irvina ein Glasschildchen, auf welchem in grüner Laserschrift ein Name stand: “Dr. Pauline Kael“. Dr. Kael wollte von Irvina wissen, ob sie bereits eine Reise in dieser Art gemacht hatte. Als Irvina verneinte, schlug Dr. Kael vor, sie zuerst über die Preise zu informieren und dann noch zu Sicherheitsvorkehrungen einiges zu sagen. Wenn Irvina zwischendurch Fragen hätte, solle sie nicht zögern, zu unterbrechen. 
Die Preise konnte man keineswegs als günstig bezeichnen, doch lagen sie noch im Bereich des Möglichen. Dann kam Dr. Kael wie angekündigt auf Sicherheitsvorkehrungen zu sprechen. Irvina war erstaunt, wie streng und gewissenhaft die Vorbereitungen für einen Flug in die Vergangenheit waren. Bevor man eine Reise in die Vergangenheit antreten konnte, mußte jeder Reisewillige sich einem medizinischen Test unterziehen, der einen physiologischen, einen psychologischen und einen moralisch-ethischen Test beinhaltete. Bei dem physiologischen Test wurde die Funktionstätigkeit aller Organe getestet, man führte eine Gehirntomographie durch, um eventuelle Gehirnschäden auszuschließen und letztendlich noch wurde die körperliche Belastbarkeit überprüft. Den psychologischen Test führten die Veranstalter durch, um zu sehen ob der Reisende an Phobien irgendwelcher Art litt oder sonstige psychologische Mängel aufwies. Der moralisch-ethische Test dauerte nur ein paar Minuten. Die Veranstalter mußten ihn durchführen, um sich in juristischer Hinsicht abzusichern. Es wurden einige Fragen gestellt, die in etwa folgendermaßen lauten konnten: „Haben Sie vor, die Vergangenheit für ihre Zwecke zu verändern ?“ oder „Könnten sie sich vorstellen, für immer in der Vergangenheit zu leben ?“ oder „Sehen sie sich selbst als Außenseiter unserer Gesellschaft ?“. Wurde eine Frage mit Ja beantwortet, erhielt man ein Reiseverbot. Damit sollte vordergründig verhindert werden, daß Zeitterroristen an dem Programm teilnahmen. Denn die Voraussetzung für eine Reise in die Vergangenheit bestand darin, daß kein Zeitreisender beispielsweise Ghuanan umbrachte, bevor er den 18-Stunden-Arbeitstag einführen konnte oder die Urform des Hundes ausrottete, damit Nachbars Lumpi nie wieder nerven konnte, weil er von da an nicht mehr existierte. 
Natürlich hinderte der moralisch-ethische Test keinen Zeitguerilla daran, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Wer glaubte denn im Ernst, daß ein Bombenleger auf die Frage: „Wollen sie ein Bömbchen legen ?“ mit Ja antwortete? Und tatsächlich gab es immer mal wieder einen Unfall, indem ein Aktivist durch den nicht ganz lückenlosen Test schlüpfte und zur Reise zugelassen wurde. Kaum in der Vergangenheit angelangt verfolgte er dann seine finsteren Ziele. 
Doch auch für solche Fälle hatte die Agentur gesorgt. Sie hatte ein Zeitumkehrreparationskommando ausgebildet, welches dafür zuständig war die Täter zu fassen und anschließend den Schaden zu beheben und die Vergangenheit wieder in ihren Ausgangszustand zu versetzen. Das Wissen, wie man dies erreichte, blieb unter größter Geheimhaltung den Mitgliedern des ZR-Kommandos vorbehalten. 
Irvina hatte nicht vor, die Vergangenheit zu verändern und konnte alle Fragen des moralisch-ethischen Tests mit reinem Gewissen mit Nein beantworten. Die übrigen Tests bestand sie ebenfalls ohne weiteres. Dann mußte sie noch ihre Identifikationsnummer angeben und auf dem Display, welches in Dr. Keals Schreibtisch, der ebenfalls aus Glas bestand, eingearbeitet war, erschienen sofort alle Informationen über ihre Person: Wohnort, Geburtstag, Größe und alle weiteren Personalien. 
Irvina hatte mal von jemandem erzählt bekommen, daß auf den Schreibtischen früher quadratische Kästen standen, die man „Monitor“ nannte. Davor stand dann noch eine Tastenfläche und irgendwo an der Seite oder unter dem Schreibtisch ein Gehäuse, welches Speicherkapazitäten und Energie lieferte und das eigentliche Herzstück war. Irvina konnte das nicht glauben. So ein Ding nahm doch viel zu viel Platz weg und war viel zu unpraktisch. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß die Betriebe solche Dinger überhaupt an den Mann bekommen konnten. Es mußte doch auch damals schon möglich gewesen sein, die gesamte Elektronik in die Arbeitsfläche des Tisches einzuarbeiten, so daß man die Oberfläche des Tisches nutzen konnte, ohne irgendwelche Gerätschaften beiseite schieben zu müssen. Das Display auf dem Tisch konnte man mit einer leichten Berührung der Fingerspitzen bedienen. Irvina machte sich keine weiteren Gedanken über dieses Thema.
Denn nun konnte man endlich zum Wesentlichen kommen. Irvina hatte sich während der Tests bereits Gedanken gemacht, in welche Zeit sie reisen sollte. Zuerst hatte sie sich überlegt, ob sie ihre Eltern besuchen sollte, als sie in der Pubertät waren, um zu sehen, ob ihr Vater tatsächlich ein solcher Musterknabe war, wie er immer vorgab und ob ihre Mutter jeden Tag ihrer Mutter beim Abwasch geholfen hatte. Sie verwarf diese Idee, denn eigentlich war sie aus diesem Alter raus, in welchem es wichtig war, diese Dinge zu erfahren. Dann war sie auf die Idee gekommen, zu den Steinzeitmenschen zu reisen. Aber das reizte sie nicht lange, denn sie versprach sich wenig Abwechslung beim Jagen von Rentieren und Sammeln von Früchten. Nach reichlicher Überlegung kamen für sie nur noch die Antike oder das Mittelalter in Frage.
„Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, in welche Zeit sie reisen möchten?“ Irvina eröffnete Dr. Keal ihre Überlegungen. „Sie haben noch ein wenig Zeit, bevor Sie sich entscheiden. Vor ihrem Reiseantritt bekommen Sie noch zeitgemäße Kleidung und einen kleinen Kurs in Umgangsformen der von Ihnen gewählten Epoche.“ Irvina fragte, wie es denn mit der Verständigung vor sich gehe. Dr. Keal erklärte ihr, daß sie einen kleinen Chip ins Ohr bekomme, der die Worte der Menschen ohne Zeitverlust übersetzte. Der Chip funktionierte inzwischen so gut, daß man den Eindruck hatte, der Mensch spräche keine andere Sprache. Außerdem sendete der Chip kleine Impulse ins Gehirn. Dies wiederum bewirkte, daß man zwar die eigene Muttersprache dachte, jedoch die der Zeit und dem Land entsprechende Sprache redete. 
Irvina war begeistert. Dr. Keal fuhr fort:„Die Schulung und die Kleiderauswahl dauert erfahrungsgemäß 2 bis 3 Stunden. Sie könnten heute noch die Reise antreten. Ansonsten müßten Sie bis morgen nachmittag warten.“ Irvina konnte es kaum erwarten und entschied sich für den nächst möglichen Flug in die Vergangenheit.


KAPITEL IV: DIE ZEITREISE-SCHULUNG

Die Schulung war sehr anstrengend. Sie versuchte, sich alles genau einzuprägen. Am Ende mußte sie einen Test mit etwa 80% bestehen. Der Test fragte das in der Schulung erworbene Wissen ab. Irvina bestand mit 97,8%. 
Die Kleiderauswahl hatte Irvina viel Freude bereitet. Sie suchte sich noch dazu passenden Halsschmuck, einige Armreifen und kunstvoll verzierte Haarnadeln aus. Bei den Schuhen hatte sie keine große Auswahl. Sie bekam noch eine ausreichende Menge an Zahlungsmittel. Geld, welches in der von ihr gewählten Zeit im Umlauf war. Es war schon etwas auffällig, wenn ein Zeitreisender mit viereckigen Platinchips in der weit entfernten Vergangenheit zahlen wollte. Abgesehen davon wurde es noch nie als Zahlungsmittel in der Vergangenheit akzeptiert. Man wurde verlacht, als habe man den besten Scherz aller Zeiten gemacht oder wurde wegen versuchten Betrugs verfolgt. Die Agentur hatte in ihren Anfangszeiten nicht daran gedacht und konnte erst im Laufe der Zeit den Reisenden zeitgemäße finanzielle Mittel bieten. Man hatte dafür einige Spezialisten losgeschickt, die teilweise sogar unter Lebensgefahr Geld aus allen Zeiten der Vergangenheit besorgten. Eine kleine, aber unwesentliche Veränderung der Vergangenheit nahm die Agentur dafür in Kauf. Beispielsweise waren sämtliche Postkutschenüberfälle im Wilden Westen von Amerika, die auch später in Geschichtsbüchern auftauchten, von diesen Geldbeschaffungsspezialisten verübt worden. Natürlich wurde darauf Wert gelegt, die GB-Spezialisten in die Zukunft zurückzuholen, bevor ihnen etwas zustoßen konnte. 



KAPITEL V: DER ÜBERSETZUNGS-CHIP

Bevor es losgehen konnte, bekam sie den kleinen Chip, den sie sich in die äußere Ohrmuschel steckte. Man testete ihn, indem sie auf einige Sätze in Latein, Althochdeutsch, Niedergrisanesisch und Holländisch antworten mußte. Der Chip funktionierte hervorragend und sie antwortete in der jeweiligen Sprache. Nun waren alle Vorbereitungen getroffen. Es war aber auch schon höchste Zeit, denn in 20 Minuten sollte die Reise beginnen. Irvina war sehr aufgeregt, denn bisher hatte sie noch nie einen Flug in die Vergangenheit gemacht, obwohl es vor einem Jahr ein äußerst günstiges Angebot gegeben hatte. Damals hätte man für die Hälfte des Normalpreises einen Flug in die zwischen 30 und 40 Jahre zurückliegende Vergangenheit buchen können. Außerdem bekam man doppelt soviel Zahlungsmittel wie üblich für die Reise. Sie hatte die Reise damals nicht gemacht, weil sie Gerüchte gehört hatte, daß die Agentur zu dieser Zeit immense Schwierigkeiten mit Zeitterroristen gehabt hatte, was dem Unternehmen erhebliche finanzielle Schwierigkeiten bereitete. Damals hatte es den moralisch-ethischen Test auch noch nicht gegeben. Jetzt wurde die Agentur aufgrund dieses zusätzlichen Tests von staatlich-territoritaler Seite her gefördert. 
Ihre persönlichen Dinge konnte Irvina bei der Agentur in Verwahrung geben, bis sie wieder zurück war. Die Schuhe, die sie inzwischen trug, waren zwar zeitgemäß, jedoch äußerst unangenehm zu tragen. Die Riemchen scheuerten beim Gehen an ihren Knöcheln. Wie hatte nur jemals eine Frau derart unbequeme Schuhe freiwillig tragen können ? Irvina wurde von Dr. Keal in das Abflugterminal geführt. Unterwegs traf sie auch noch andere Touristen, die teilweise mit Fellen und Keulen ausgestattet waren, andere wiederum steckten in barocken Kleidern oder in mittelalterlichen Mönchskutten. Sie war froh, daß sie nicht die Reise in die Steinzeit gewählt hatte. Das Erscheinungsbild dieser Reisenden wirkte doch etwas befremdend, um nicht zu sagen dämlich. Letztendlich gelangte Irvina in einen großen, hohen, hellen Raum, welcher auf beiden Seiten jeweils acht bis zehn gläserne Kabinen aufwies. Über jeder Kabine leuchtete eine Zahl. War die Kabine frei, so leuchtete die Zahl grün, war sie besetzt leuchtete sie rot. Irvina wurde die Kabine mit der Nummer 12 zugeteilt. Dr. Keal, die lässig an einem Sandwich kaute, wünschte ihr viel Spaß und sie würde sie nach 24 Stunden wieder in Empfang nehmen. Dr. Keal verabschiedete sich. Zuvor erinnerte sie Irvina daran, wieder an dem präzisen Ort in der Vergangenheit zu stehen, an welchen sie sich befinden würde, wenn sie in der Vergangenheit angelangt sein würde. Irvina nickte gehorsam. Dr. Keal hatte ihr gesagt, daß der Chip ihr mehrere Signale geben würde, damit sie den Zeitpunkt nicht verpaßte. Wenn er zum ersten Mal piepste, hatte sie noch 12 Stunden Zeit, wenn er zum zweiten Mal piepste noch 5 Stunden und dann gab er jede Stunde ein Signal. Die letzten 30 Minuten gab er alle 5 Minuten ein Signal mit Ansage. Die letzte Minute gab er sekundenweise Signale von sich. Irvina wartete bis das Lämpchen grün leuchtete und betrat dann die Kabine.

KAPITEL VI: DAS TRIUMVIRAT

Auf seinem Weg zur Rostra empfand er ein Triumphgefühl. Endlich konnte er die erfolgte Hinrichtung der catilinarischen Verschwörer verkünden. Caesar hatte im Gegensatz zu ihm und Cato eine unterschiedliche Auffassung vertreten, was die Hinrichtung betraf, doch Cato hatte sich durchgesetzt. Solche Beschlüsse erfolgten zwar letztendlich in offiziellen Versammlungen, doch die Entscheidung wurde immer schon vorher getroffen. Man traf sich im privaten Kreise, trank und aß zusammen und man führte im Vorfeld die eigentlichen Verhandlungsgespräche, in denen unter Abwägung der bestehenden Machtverhältnisse Absprachen getroffen, Kompromisse geschlossen und alle denkbaren Eventualitäten erwogen wurden. Meistens traf man sich in den Häusern einflußreicher Nobiles. Die letzten Treffen dieser Art hatten immer in Ciceros Haus statt gefunden und er hatte sich vorgenommen, beim nächsten Treffen darauf zu bestehen, daß es dieses Mal in dem Haus von jemand anderem statt fand. 
Zu diesen Gesprächen gehörte nämlich selbstverständlich auch eine angemessene Bewirtung und Cicero hatte es sich nie nehmen lassen, die feinsten Leckereien mit den exotischsten Gewürzen zu bieten. Es war immer schwierig und kostspielig, diese Gaumenfreude zu besorgen; andererseits war er ein Mann aus noblem Geschlecht. Die anderen sollten sehen, was er seinen Gästen bieten konnte und welchen Lebensstil er hatte. Aber so langsam ärgerte es ihn, daß die Versammlungen immer in seinem Haus stattfanden. Die Sklaven waren am nächsten Tag nie ausgeruht und arbeitswillig, weil sie immer die ganze Nacht damit zubrachten, die Knochen und andere Essensreste vom Boden wegzuräumen. Diese Versammlungen arteten grundsätzlich zu einem Gelage aus und die anderen Nobiles übergaben sich des öfteren noch vor seinem Haus. 
Das und anderes ging ihm durch den Kopf, bis er an der Rednerbühne angelangt war. Er sah wie viele Bürger gekommen waren. Es waren mehr, als er angenommen hatte. Er verkündete wie vorgesehen die Hinrichtung der Verschwörer und die Masse jubelte und sie schwenkten mit ihren Armen begeistert über ihren Köpfen in der Luft. Diese Reaktion hatte er als Konsul erhofft. Er liebte es, Reden zu halten und seine Redekunst war inzwischen auch schon bekannt. Er schaute noch einmal in das Volk bevor er die Rostra verließ. Cicero hatte wieder einmal gesprochen.
Irvina stand in der Volksmenge und hatte der Verkündung zugehört. Sie fragte sich währenddessen immer wieder, wer dieser Catilina und seine Helfer wohl gewesen waren, daß man sie hatte hinrichten müssen. Na gut, es wird wohl einen Grund gegeben haben, schließlich war das römische Volk außer sich vor Freude. Demnach waren diese Verschwörer, um welche es hier ging, allgemein nicht sehr beliebt. Sie schaute um sich. Es waren eindeutig mehr Männer als Frauen auf dem Forum. Sie schaute sich den Mann, der neben ihr stand genauer an. Er hatte das typisch römische Gewand an, wie sie es noch vor ihrer Abreise gesehen hatte, und er trug ähnliche Sandalen wie sie, die bestimmt genauso unbequem waren wie die ihrigen. Sie schaute sich seine Haare an. Sie waren schon ein wenig grau an den Schläfen. Plötzlich blinkte etwas an seinem Ohr aufgrund der einfallenden Sonne auf und sie entdeckte einen Chip, der in der Ohrmuschel des Mannes steckte. Es war der gleiche Chip, den sie im Ohr trug. Ein Tourist aus der Zukunft. Sie hatte zuvor nicht darüber nachgedacht, jedoch bestand eben nun mal eine gewisse Wahrscheinlichkeit, einen Touristen zu treffen. Sie war schließlich nicht die einzige, die diese Zeitreisen unternahm. Sie entschloß sich dazu, ihn nicht anzureden, denn erstens konnten umstehende Personen auf sie aufmerksam werden und zweitens wollte sie ihren Urlaub alleine verbringen und nicht mit einem wildfremden Typen aus ihrer Zeit im antiken Rom herumziehen. Sie wandte sich ab und ging ein paar Schritte nach vorne. Sie konnte der Verkündung Ciceros keine ungeteilte Aufmerksamkeit mehr zollen. An ihr nagte immer stärker die Frage, wie viele Touristen sich hier auf dem Forum versammelt hatten. Sie entdeckte tatsächlich einen weiteren Touristen, dann noch einen, dann noch ein paar, und bevor Ciceros Rede zu Ende war, hatte sie herausgefunden, daß etwa 99% des „römischen Volkes“ Touristen waren. Gerade als sie sich darüber im Klaren wurde, johlte das Volk der Touristen auf und jubelte Cicero zu. Irvina zog sich zurück. Sie wollte nicht angesprochen werden. Und auf gar keinen Fall wollte sie etwas hören wie: „Na, wie lange sind Sie denn schon hier? Sie müssen unbedingt mal die Steinzeit ausprobieren“ oder „Letzte Woche habe ich mit Wolfgang Amadeus Mozart zu Abend gegessen.“
So entzog sie sich der Menge und begab sich in kleine Gässchen, um die wärmende Sonne zu genießen, um den Duft der Antike in sich einzuatmen und um die Steine, die nun wieder jung waren, unter ihren Füssen zu spüren. Sie setzte gedankenverloren einen Schritt vor den anderen und bog unbewußt in eine andere Gasse ein, wieder und wieder bog sie ab. Ihre Gedanken trugen sie. Sie war völlig abgeschnitten von der Außenwelt. Sie hatte das Gefühl, um die Geschichte betrogen worden zu sein. Was hatten diese ganzen Touristen  hier verloren? Die Geschichte schien eine sich ständig verändernde Masse zu sein. Auch wenn sie wußte, daß nichts im Leben von Beständigkeit geprägt war und sich ständig alles veränderte, so dachte sie, daß zumindest die Vergangenheit feststünde und nur die Köpfe der Menschen sie veränderte.  
Sie ging zwar mehr als 2000 Jahre zurück und 
Das war auch der Grund dafür, warum sie diese Touristen als äußerst unangenehm empfand. Die anderen Menschen, die in dieser Zeit zuhause waren, nahm sie nicht als solche wahr. Sie gehörten zum Setting dieses realen Filmes, der sich vor ihren Augen abspielte. Sie hatte das Bedürfnis alleine zu sein. Diese gewollte Einsamkeit wurde gestört, wenn Touristen auftauchten. So dachte sie und fand sich plötzlich auf dem Kapitol wieder. Erst jetzt begannen ihre Augen wieder zu sehen, die zuvor auf ihre Seele gerichtet waren.
Auf dem Kapitol befand sich ein wunderschöner Tempel, denn sie betreten wollte, um dort ihre Ruhe zu finden.

Irvina war keinen Meter mehr davon entfernt, als sie ein Schwindelgefühl überkam. Sie versuchte aufrecht stehen zu bleiben, doch sie spürte, wie die Beine unter ihrem Körper wegglitten und sie sank auf die von der Sonne heiß gewordenen Marmorplatten. Die Welt um sie herum verschwamm. 
Als sie wieder zu sich kam, setzte sie sich vorsichtig auf und lehnte sich an eine der Säulen, die den Eingang des Tempels schmückten. Sie war noch etwas benommen und befand sich in einer Dimension zwischen Wachsein und Schlaf. Sie war passiver Betrachter einer fremden Welt, die sich ihr vor ihren Füssen eröffnete.  Sie betrachtete die schönste aller Städte zu ihrer Blütezeit. Von hier aus konnte sie diese göttliche Stadt bewundern. Ihre Ohren hörten eine Symphonie, die ihr Geist bei diesem Anblick hervorbrachte. Ihre Ohren unterdrückten unwürdigen menschlichen Geräusche und das laute Toben. Die Gebäude erhoben sich wie ein Kunstwerk vor ihren Augen. Diesen Moment nahm sie in sich auf, als wäre es ihr letzter. Seltsames dachte es in ihr: "Ist es nur das Fremde eines Dinges, das man genießen kann, das Neuartige, an welchem einem zuerst die reine Schönheit auffällt oder hat man verlernt, Vertrautes in seiner Schönheit zu empfinden? Man achtet nicht mehr auf vertraute Dinge. Je öfter einem sie im Alltag begegnen, desto mehr entziehen sie sich der Wahrnehmung."
Langsam erhob sich Irvina, verliess den Ort und stieg vom Kapitol herab, empfand dabei bewußt und ohne Anstrengung jeden Windhauch und jede Unebenheit unter ihren Füssen. Sie versuchte der Symphonie zu lauschen, in welche diese göttliche Stadt gehüllt war. Und unmerklich befand sie sich wieder mitten im römischen Treiben. Nun allerdings fühlte sie, daß alle Menschen dieser Stadt angehörten und Teil einer großen Seele waren, die Rom ausmachte. Sie konnte diese Seele sehen. Wie eine Glasmurmel, die ihre Umwelt reflektierte, bahnte sie sich den Weg durch die weiche Masse, die sich zwar bewegte und ständig andere Formen annahm, gleichzeitig aber ein und dieselbe Seele blieb. Die Menschen waren nicht mehr unangenehm und lästig. Irina verstand, daß es zuvor nicht die Menschen gewesen waren, die sie nervten, sondern das Fehlen ihrer eigenen Unfähigkeit, die Situation anzunehmen. 

KAPITEL VII: Der Seher.

Die Sonne verfärbte sich rot. Irvina war von ihrem Tag in der Antike sehr erschöpft und hatte das Bedürfnis, zu duschen und sich hinzulegen. Also machte sie sich auf den Weg, um nach etwas wie einem Hotel zu schauen. 

Die Firma hatte sie einige Adressen auswendig lernen lassen, zu welchen sie gehen konnte, wenn sich kein Schlafplatz auftreiben liesse. Die Adresseninhaber wussten von der Firma und waren treue Helfer. Meist waren es Seher oder Philosophen wie zum Beispiel auch Sokrates und Diogenes, die ohnehin an paranormalen Dingen Interesse hatten und wenn es sich noch dazu um Dinge handelte, die wenn auch nur ein wenig Wahrscheinlichkeit der Fähigkeit besaßen, den Horizont des Menschen zu erweitern, konnte man sich auf deren Loyalität und Integrität verlassen. 

Irvina sehnte sich nach einer Dusche, sie wusste allerdings, dass es von der Antike aus noch lange hin sein würde, bis Menschen fließend warm Wasser hatten. Bis rein ins 20. Jahrhundert wuschen sich die Menschen mit kaltem Wasser. Sie musste sich also darauf einstellen, dass ihre Haut rebellieren würde und dies zum Ausdruck bringen würde indem sie sich in die Haut einer gerupften Gans verwandelte. Sie konnte nichts daran ändern. Die Gebäude waren alle bunt angemalt. Von wegen, heroisches, prachtvoller weisser Marmor. Hier sah es aus wie in Lego Land. Alles war quietsch-bunt.

Sie ging zu der Adresse, bei welcher sie wohnen konnte und bei der die Bewohner keine Fragen stellen würden. 
Dort wurde sie von einem Mann empfangen, der eine Büroklammer in den Ohren trug. Sie musste ihm wohl zu sehr aufs Ohr gestarrt haben, denn er sagte: „Ach ja, das gleichmäßig gewundene Metall. Hier kommen viele zu mir, die durch die Zeit reisen. Da ich der Stadt-Seher bin, unterstützt das meine Eigentümlichkeit, bei mir fragt man nicht nach. Das gehört zu meinem Berufsstand, eigenartig und mystisch zu sein. Und genauso Dinge, die man nicht kennt, die ich an mir tragen oder benutzen kann.  Mein Berufstand ist hier hoch angesehen. Nun komm erst mal herein. Herzlich Willkommen.“

Irvina konnte Ihren Augen nicht trauen. Das Haus des Sehers war voll mit Kram aus allen Zeitepochen. Ein Schuh aus der Renaissance, eine Photographie aus den 1920er Jahren. Selbst einige Dinge, die sie nicht erkannte, einige mussten aus einer noch ferneren Zukunft stammen, die selbst Irvina noch nict kannte.

„Du hast wohl öfter Besucher hier?“ fragte sie neugierig. Der Seher schmunzelte. „Ja.“ Irvina stellte die Frage, die sie eigentlich stellen wollte: „Die von Dir entfernteste Zukunft: Aus welcher Zeit kam der Besucher, der am entferntesten von Deiner Gegenwart war?“ Der Seher überlegte: Ich weiss es nicht genau, aber es muss so um die 3450er gewesen sein. Vielleicht hatten die Menschen danach kein Interesse mehr zu Zeitreisen oder haben andere Wege gefunden, bei denen meine Hilfe nicht mehr von Nöten ist, äh war... gewesen sein wird.“ Der Seher zuckte mit den Armen. „Ich könnte da mal hineinschauen, dann Weiß ich was nach den 3450ern passiert ist.“

„Für Dich klingt es als wäre es Vergangenheit.“
Der Seher blickte sie ernst an und antwortete: „Ja das ist es. Zwar für mich als menschlichen Körper mit menschlicher Erfahrung nicht unbedingt, aber ja so ist es: Die Vergangenheit ist genauso wenig vergangen wie die Zukunft noch nicht passiert ist. Wir müssen nur anfangen,  uns an die Zukunft zu erinnern, dann spüren wir dass alles gleichzeitig stattfindet und die Zeit eine bloße Illusion ist.“

Irvina hatte keine Ahnung wovon der Seher sprach, vielleicht hatte er auch zu viel von seinen Kräutern getrunken. Vielleicht hatte er auch recht. Irvina beschloss, diese Sache unbewertet liegen zu lassen. 

Sie war sehr müde von der Lauferei und den vielen Eindrücken. Sie wollte ihren Aufenthalt genießen, doch es war Zeit etwas zu schlafen und die Sonne war am Untergehen. Auf den Straßen würde ohnehin nichts mehr los sein, denn die Bewohner gingen mit Einbruch der Dunkelheit ins Bett. 

Sie sollte sich täuschen. Die ganze Nacht hörte sie wie Pferdefuhrwerk und Karren hin und herfuhren und Leute teilweise laut riefen. Die gesamte Nacht war lärmerfüllt. Dagegen war es tagsüber ja noch leise. 

Der Seher wartete mit einem teeähnlichen Getränk und wünschte einen Guten Morgen. Er kannte die Umgangsweisen aus der Zukunft. 

„Du wunderst Dich über den Lärm der Stadt bei Nacht.“ Irvina nickte. Und gähnte.

„Ein wesentlicher Grund ist das Gesetz, das Julius Caesar noch veranlasst hat. Last- und Reisewagen dürfen Zwischen Sonnenaufgang und der zehnten Stunde, also später Nachmittag nicht fahren in der Stadt. Der „Lärm der Räder“ fing bei uns an. 


KAPITEL IIX: Rückreise in die Zukunft

Irvinas Wecker piepste. Bereits zum zweiten Mal. Das bedeutete, dass sie noch 5 Stunden Zeit hatte. 

5 Stunden in der Antike. Sie wünschte sich, sie hätte einen längeren Urlaub gebucht.  

„Wie heißt Du, Seher?“ fragte Irvina. „Haruspex“ antwortete der Seher und zwinkerte. 

„Nun, liebe Irvina, es ist Tradition, dass Du mir etwas aus Deiner Zeit mitbringst, wenn Du mich wieder besuchst.  Würdest Du das tun? Ich Weiß, dass Du dann gegen gewisse Vorschriften verstößt, ich würde die Dinge einfach nur mal in Händen halten. Ich kann selbst nicht zeitreisen.“

Irvina konnte seinen Wunsch verstehen und nahm sich vor eine Lösung zu finden.
Sie wollte ganz bestimmt wieder kommen. Das war nun im Grunde ein kleiner Appetithappen gewesen. Es gab so vieles was sie interessierte. Das alltägliche Leben im alten Rom, wie die Frauen lebten, das Lebensgefühl an sich. 
Sie hatte ja noch ein paar Stunden Zeit. Sie schlenderte ein wenig durch die Straßen Roms. schlendern. Das konnten die Römer auch ganz gut, das hatte sie schon festgestellt. Die Menschen gingen irgendwie anders miteinander um. Irgendwie zwangloser und auch aufmerksamer. 

Sie wollte zum Kolosseum. Der Seher hatte gesagt dass dort ein paar Gladiatoren zu sehen seien. Kreischende Frauen, tuschelnd kichernd standen in Grüppchen vor dem Kolosseum. Sie verehrten die ankommenden Gladiatoren wie Groupies. Im Prinzip hatte sich nicht viel verändert.  Leider konnte sie nicht mehr der Veranstaltung beiwohnen. Sie musste zusehen, dass sie rechtzeitig an dem Ort war, an dem sie sich bei Ankunft befunden hatte. Sie hatte nur noch eine Stunde.

KAPITEL IX:Zeit ist relativ.

Es zischte kurz, Irvina blinzelte mit den Augen. Sie befand sich ein einem grünschillernden Raum, als wäre der Raum unter Wasser. Doch dann erkannte sie ihn wieder als den Raum, den sie betreten hatte, um die Reise anzutreten. Frau Dr. Kael stand vor Irvina und biss an einem Sandwich runter. Irvina schmunzelte: „Hallo. Sie scheinen Ihre Lieblingsspeise ja gefunden zu haben. Bei Verabschiedung ein Sandwich, bei Begrüßung ein Sandwich.“ Frau Dr. Kael kaute genüsslich, schluckte und kicherte "Es ist dasselbe Sandwich. Hier ist keine Minute vergangen. Ich habe die Tür zugemacht und gleich wieder aufgemacht. Ich freue mich dass es Ihnen gut geht! Wie war Ihre Reise ?“
Sie geleitete Irvina aus der Kabine zu einem Sofa, bei dem schon eine Tasse Tee bereitstand und eine Decke zum Ausruhen und Einkuscheln.
"Wir holen die Urlauber in die Zeit zurück, in der sie abgeflogen sind. Wir dürfen, das ist gesetzlich erlaubt, die Leute bis zu einer Woche in den Urlaub befördern und sie eine Stunde nach ihrer Abreise wieder zurückholen."
Eine Stunde würde der Organismus vom Team beobachtet, bevor man aus seinem Urlaub entlassen wurde. Um Zeitabnomalien auszuschliessen. 

Frau Dr. Kael erklärte: "Sie haben dann eine schöne Woche erlebt und zuhause keine Zeit vergeudet. Der einzige Nachteil ist,daß wenn man das sehr oft machen würde, so etwa einmal im Monat, dann würde, man der Person eine ziemlich schnelle Alterung ansehen würde. Der Körper weiß, wieviel Zeit man erlebt hat. Außer der Kopf schafft es, den Körper vom Gegenteil zu überzeugen. Aber das ist ein anderes Thema.“ 

Irvina ließ sich von Dr. Kael alle Prospekte der angebotenen Zeitreisen mitgeben. Und ging glücklich nach Hause, um ihren Urlaub im Herzen zu bewegen.

Yvonne Arnold, Konstanz 1997.



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